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Mehr Medienkompetenz bedeutet mehr aktive Kriminalprävention
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Mehr Medienkompetenz bedeutet mehr aktive Kriminalprävention

Weil die Gen Z im digitalen Raum zumindest teilsozialisiert ist, empfindet sie Normbrüche im Netz fast schon als „normal“. Und: Fast alle Heranwachsenden haben Erfahrungen mit digitaler, oft auch sexu­eller Gewalt. Cyberkriminologe Prof. Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger will dem gegensteuern. Im Tendenz-Interview fordert er eine virtuelle Polizeistreife und einen Medienführerschein für Erwachsene.

Interview Stefanie Reger

Tendenz: Herr Prof. Dr. Rüdiger, wie gehen Heranwachsende heute mit digitaler, oft auch sexueller Gewalt um?

Erschreckenderweise müssen wir hier von einer Normalisierung sprechen. Damit meine ich: Meiner Erfahrung nach finden Konfrontationen mit digitalen Sexualdelikten heute so häufig statt, dass Minderjährige solche Handlungen oft als „normal“ empfinden. Meist erkennen sie sie also gar nicht unbedingt als strafbar.

Was erleben Minderjährige denn ganz konkret?

Viele Minderjährige werden beispielsweise von sogenannten „Creepy“-Nutzern in Sozialen Medien, auf Chatplattformen oder auch in Onlinegames angeschrieben. Das dürfte in vielen Fällen eine Form von strafbarem Cybergrooming darstellen. Eine weitere aktuelle Entwicklung: Menschen bekommen beispielweise pornographische Medien per Air Drop von Unbekannten im öffentlichen Nahverkehr zugesendet. Vom allgemeinen Phänomen des unaufgeforderten Zusendens pornographischer Inhalte – was landläufig auch als „Dickpics“ bekannt sein dürfte – ganz zu schweigen.

Ein weiterer Aspekt ist in den letzten Jahren hinzugekommen: Immer häufiger haben wir es mit Peer-Delikten zu tun. Im Rahmen der Polizeilichen Kriminalstatistik waren 2021 bei der Verbreitung kinderpornographischer Inhalte über das Internet erstmalig die Mehrheit aller Tatverdächtigen selbst Minderjährige. Das ist ein absolutes Novum.     

Broken-Web-Phänomen senkt die Hemmschwelle

Ob in Chats, Foren oder Games – Kinder und Jugendliche werden heute also vielfach mit Kriminalität im Netz konfrontiert. Was macht das mit jungen Menschen?

Zunächst muss man sich klarmachen: Ein oder zwei Generationen der jungen Erwachsenen wurden im digitalen Raum teilsozialisiert. Sie sind also auch mit digitalen Normbrüchen aufgewachsen.

Studien haben ergeben: Etwa ein Drittel reagiert darauf mit einem Vermeidungsverhalten, sie posten oder kommentieren nicht mehr öffentlich.

Neben diesem Vermeidungsverhalten sehe ich die Gefahr der Gewöhnung: Wenn Nutzende Normbrüche wie digitale Hasskriminalität, Cybermobbing oder Cybergrooming im digitalen Raum als „normal“ empfinden und gleichzeitig sehen, wie wenig davon geahndet werden, könnte die Hemmschwelle sinken. Ich nenne das „Broken-Web-Phänomen“.

Klären Sie doch bitte einmal die Begriffe. Am bekanntesten ist vermutlich das Cybermobbing…

Genau. Dabei denken die meisten wohl an analoges Mobbing im schulischen Kontext, das mit digitalen Mechanismen fortgesetzt wird. Hier ahnen oder wissen die Betroffenen, wer die Täter und Täterinnen sind. Medienkompetenz hilft hier nicht, da die Ursache im Klassen- und Schulverbund liegt.

Bei echtem digitalen Mobbing dagegen laden Menschen – nicht nur Minderjährige – beispielsweise im Netz ungünstige Bilder und Videos von sich oder anderen hoch und lösen damit einen „Shitstorm“ aus. Die Täter und Täterinnen sind dann weltweit zu finden und haben, wenn überhaupt, nur geringe Verbindungen zu den Betroffenen. Die gute Nachricht: Hier kann man tatsächlich etwas mit der Vermittlung von Medienkompetenz erreichen, indem man Minderjährige für ihr eigenes Verhalten im digitalen Raum sensibilisiert.

Und wie unterscheiden sich Cybergrooming und Sexting?

Cybergrooming bedeutet: Ein Sexualtäter oder eine Sexualtäterin nähert sich über Soziale Medien, Onlinegames und Co. einem Kind bis zu 14 Jahren und versucht, eine Verbindung aufzubauen. Nicht selten geben sie sich dabei als gleichaltrig aus, um leichter in Kontakt zu kommen. So möchten sie das Kind zu sexuellen Handlungen bringen – etwa dazu, Nacktbilder von sich aufzunehmen, im Livestream sexuelle Handlungen vorzunehmen oder gar Treffen im physischen Raum zu arrangieren. Schon das reine Einwirken auf das Kind, ob es erfolgreich ist oder nicht, ist strafbar.

Sexting beschreibt – im Unterschied zu den beiden anderen Phänomenen – erst einmal nur eine Form der Sexualität. Nämlich den freiwilligen Austausch von sexualisierten Nachrichten, Bildern oder Videos von sich mit einem Partner oder einer Partnerin. Das ist eine – wenn sie auf Freiwilligkeit und Konsens basiert – zunächst legitime Form der Sexualität im digitalen Zeitalter. Strafrechtlich relevant kann Sexting aber dann werden, wenn es Kinder oder Jugendliche untereinander betreiben. Dann entstehen nämlich „kinder- oder jugendpornographische Inhalte“. All diese Phänomene können für Kinder schwerste Folgen haben.

Gibt es neue Entwicklungen? Werden sich die Problematiken noch verschärfen?

Mit Blick auf digitale Sexualdelikte sind aktuell Deepfake- und KI-basierte Mechanismen ein großes Problem. So wurde Ende 2021 in Österreich ein über 50-jähriger Mann dafür verurteilt, sich mit Hilfe ausgefeilter Deepfake-Technologien in Videotalks konsequent als junges Mädchen dargestellt und so über 600 (!) Jungen dazu gebracht zu haben, Nacktaufnahmen von sich zu übersenden. Deshalb muss die Problematik Deepfake verstärkt aufgegriffen und Kindern vermittelt werden. Sie spielt übrigens auch beim Thema Fake News eine große Rolle.

Eine zweite aktuelle Entwicklung habe ich gerade schon angesprochen: Es ist die Verbreitung von kinderpornographischen, aber auch extremistischen und gewalthaltigen Inhalten in Chatgruppen. Besonders alarmierend ist, dass hier Minderjährige immer häufiger selbst als Tatverdächtige in Erscheinung treten.

Medienführerschein für Erwachsene und virtuelle Polizeistreife

Wie kann man aus Ihrer Sicht gegensteuern?

Eine einfache Lösung gibt es leider nicht. Es ist eine Mammutaufgabe, den globalen digitalen Raum für Minderjährige sicherer zu machen.

Zunächst braucht es medienkompetente Eltern, die ihre Kinder an den digitalen Raum heranführen. Im Prinzip müsste es eine Art Medienführerschein für Erwachsene geben, um sie für diese Aufgabe fit zu machen.

Doch wir müssen auch Kinder von Eltern, die sich mit Medienkompetenz nicht auseinandersetzen können oder wollen, schützen. Daher wünsche ich mir die Vermittlung von Medienkompetenz ab der 1. Klasse an jeder Schule. Dafür müssen aber auch Ressourcen bereitgestellt werden.

Was können Staat, Gesellschaft und Politik tun?

Eine Art virtuelle Polizeistreife sollte gegen solche Delikte proaktiv vorgehen und gleichzeitig in kritischen Situationen als Ansprechpartner für die Menschen und Kinder im Netz fungieren. Ich plädiere für eine zentrale Kinder-Onlinewache, über die Kinder rund um die Uhr unkompliziert per Videochat mit der Polizei kommunizieren können.

Nicht zuletzt braucht es Betreiberverantwortung und ein Verständnis in der Politik für digitale Themen und die Zusammenhänge.

Das Zusammenspiel aller genannten Punkte bezeichne ich als digitale Generalprävention. Sie umzusetzen erfordert die Entwicklung einer ernsthaften Strategie. Leider sehe ich so eine Strategie nicht wirklich kommen.

Ein globaler digitaler Raum braucht globale Schutzmaßnahmen für Kinder

Wenn eine Gesamtstrategie unrealistisch ist – was könnten erste Schritte in Richtung mehr Kinder- und Jugendschutz sein?

Unrealistisch würde ich nur auf den Zeitpunkt beziehen. Ein globaler digitaler Raum braucht globale Schutzmaßnahmen für Kinder! Das muss der Anspruch einer digitalen Gesellschaft sein und bleiben.

Bis wir weiter sind, ist ein System zur Altersverifikation ein guter Gedanke. Gleichzeitig sollte der Staat klare Vorgaben für das Communitymanagement, vor allem auch bei Sozialen Medien und Onlinegames, formulieren. Welche Aus- und Fortbildung braucht es für eine entsprechende Moderation? Wieviel Personal kommt auf wie viele Nutzende?

Zudem könnten Filtermechanismen kommunikative Anbahnungen reduzieren. Aber technische Schutzmaßnahmen dürfen nie als Selbstzweck gesehen werden – vor allem nicht, wenn sie dazu führen, dass Eltern sich zurücklehnen und auf den Schutz durch die Technik verlassen.

Um Eltern dabei zu unterstützen, Kindern und Jugendlichen mehr Sicherheit und Selbstbewusstsein im Netz zu vermitteln, haben die Medienanstalten viele medienpädagogische Projekte ins Leben gerufen…

Mehr Vermittlung von Medienkompetenz bedeutet für mich mehr aktive Kriminalprävention. Denn medienkompetente Heranwachsende, die die Risiken der digitalen Welt kennen, können sich im Bestfall selbst davor schützen, zu Opfern zu werden.

Schlussendlich werden medienkompetente Minderjährige zu medienkompetenten Erwachsenen. Und damit zu medienkompetenten Journalisten und Journalistinnen, Polizisten und Polizistinnen, Lehrer und Lehrerinnen von morgen. So würde eine Art digitale Resilienz in der Gesellschaft entstehen.


Illustration: rosepistola.de
Foto: Rüdiger Stine photography

Bild Stefanie Reger
Stefanie Reger ist Pressesprecherin der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien und leitet die Gruppe Kommunikation. Die Journalistin war zuvor u.a. bei der Münchner Abendzeitung und beim Burda-Verlag.
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